Dorflandschaften

Vorbemerkung:
Der Text basiert in Teilen auf dem in Anmerkung (1) nachgewiesenen Text.

Es war Ende der 1980er Jahre. Wir arbeiteten in einem kleinen Forschungsprojekt über das „Profil“, eine systematische Auswertung von Daten niedersächsischer Dörfer, die entlang eine Linie von Ostfriesland bis in den Harz verlief. Wir, das waren der Architekt und Dorfplaner Heinar Henckel, der Agrarwissenschaftler Gert Schäfer, der Soziologe Carsten Reinecke und ich als Historiker, dazu kamen noch mehrere weitere Absolventen in unserem Team. Unsere Arbeit war bis dahin sehr theoretisch gewesen, unendlich viele Daten wurden zusammengetragen und mit den damaligen technischen Mitteln ausgewertet. Umfangreiche Lotus 1-2-3-Tabellen (dem damals am meisten verbreiteten Tabellenkalkulationsprogramm) wurden erstellt. Erstaunliche Unterschiede zwischen den Gemeinden in Ostfriesland, denen in der Mitte des Landes und jenen im Südosten traten dabei zutage. Besonders plastisch wurde erkennbar, wie sehr die stadtfernen Regionen noch von der Landwirtschaft abhängig waren, obwohl die naturräumlichen Verhältnisse dort am ungünstigsten waren. Besonders krass fiel etwa die Region um Sulingen auf, die nächst gelegenen städtischen Zentren waren Bremen, Osnabrück und Hannover, die alle drei gleich weit entfernt waren. „Weit“ und „Entfernung“ charakterisiert dies sehr deutlich, denn ca. 1 Stunde Autofahrt war jede der drei Städte entfernt und öffentliche Verkehrsmittel gab und gibt es gar nicht.

Wenn ich übrigens von agrarischer Prägung spreche, dann bedeutet dies nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung noch in der Landwirtschaft tätig war. Es sind relative Abweichungen: 10 % der erwerbstätigen Bevölkerung können schon viel sein, wenn der landesweite Durchschnittswert nur 6 % beträgt[Zahlen prüfen!]. Schon solche Abweichungen verweisen auf Schwächen im sekundären und tertiären Sektor und weisen diese Regionen als stärker ländlich geprägte aus. Der subjektive Eindruck ist dann wesentlich „ländlicher“ als es die Werte nachweisen. Hinzu kommt, dass in diesen Dörfern viel mehr Einwohner über größere Gärten und Höfe verfügen und damit auch Nebenerwerbsbetriebe eine größere Rolle spielen.

Unsere theoretischen und statistischen Auswertungen waren sehr interessant, blieben aber etwas „blutleer“. Wir hatten keine konkrete Anschauung von dem, was wir da machten. Wir brauchten konkrete Untersuchungsgemeinden. Durch Zufall stießen wir auf die Samtgemeinde Kirchdorf südlich von Sulingen. Sie liegt genau in einer Region, die wir schon zuvor aufgrund unserer statistischen Auswertung als besonders „peripher“ ausgemacht hatten. Hier konnten wir in der Tat einer dörflichen Struktur begegnen, die uns besonders aufgefallen war: stadtfern, besonders stark agrarisch geprägt.

Die Samtgemeinde weist noch weitere Merkmale auf, die die Beschäftigung mit ihr interessant werden ließen. Dazu zählte ihre Struktur. Sie bestand - wie schon ein erster Blick auf eine historische Karte zeigte - nicht nur aus drei verschiedenen Landschaftsräumen, sondern auch aus zwei Gebieten, die lange Zeit unterschiedlichen politischen Territorien angehörten. Was aber hatte das für Folgen? Blicken wir dazu zunächst auf die verschiedenen historischen Karten. Die Region der Samtgemeinde Kirchdorf besteht aus sehr unterschiedlichen Naturräumen, die insbesondere in den älteren Karten deutlich hervortritt. Im Norden liegt Barenburg, es hier stand eine Niederungsburg der Grafen von Hoya am Übergang über die Aue. Für die Einwohner war das bis in das 20. Jahrhundert mit Nachteilen verbunden: Hier ist es nass und es fehlt guter Ackerboden. Ganz anders war es bei dem höher gelegenen Kirchdorf, wo guter Ackerboden vorhanden war, keine Niederungen bestanden. Weiter südlich dagegen dominieren Sand- und Heideböden – bis heute sorgen Sandverwehungen auf der B 51 für eine Behinderung des Verkehrs. Die Heide ist dagegen kaum noch vorhanden, auch wenn die Samtgemeinde mit der Heide massiv wirbt. So sind auf der aktuellen Homepage von Kirchdorf Bilder mit Heideimpressionen zu finden.

Westlich von Kirchdorf erstreckt sich ein weites Niederungsgebiet samt einiger großer Moore. Durch dieses fließt auch die Große Aue. Heute ist sie begradigt und eingedeicht. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts gab es keine Deiche, die Aue floss mäandrierend durch eine weite Niederungslandschaft. Es war lange Zeit kaum möglich, von Kirchdorf über die Aue und die Niederung bis in das nächstgelegene Varrel oder nach Wehrbleck zu gelangen. Außerdem gehörte Kirchdorf bis 1803 zu Hessen, der übrige Teil der heutigen Samtgemeinde dagegen zu Hannover. Unsere Vermutung war also schon sehr früh, dass zwischen diesen beiden Teilen der Samtgemeinde bislang sicher keine intensiven Beziehungen bestanden haben können. Warum überhaupt hatte man sie zu einer Samtgemeinde zusammen geschlossen? Können Planer keine Karten lesen?

Jedenfalls bestätigte sich bald unser Verdacht. Die Beziehungen zwischen den beiden Gemeindeteilen waren zumindest zum Zeitpunkt unserer Arbeit - die aber 20 Jahre zurück liegt - nicht ohne Spannungen. Das lag wohl auch daran, dass wenigstens drei Orte hätten Sitz der Samtgemeinde werden können, neben Kirchdorf auch Varrel und Barenburg.

Aber mich interessierte weniger die Situation in der gesamten Gemeinde, sondern das Ziel war, eine Gemeinde systematischer zu betrachten. Nach einigen Versuchen kam ich auf Wehrbleck.

Dort gab es einen zugezogenen Heimatforscher, der sich schnell bereit erklärte, unsere Arbeit zu unterstützen. Außerdem wurde gerade die Dorferneuerung durchgeführt, was uns Gelegenheit gab, in einem aktuellen Planungsverfahren als Beobachter dabei zu sein.

Unsere Arbeit in Wehrbleck konzentrierte sich auf drei Aspekte: Durchführung eines Volkshochschulkurses, um mit Dorfbewohnern über die Geschichte ihres Dorfes zu sprechen, wobei wir Historiker (wie waren zu zwei) die ältere Dorfgeschichte auf der Basis von archivalischen Quellen präsentierten. Dann wurden Interviews geführt. Und schließlich werteten wir die erwähnten Quellen aus.

Das Interessante an der Gemeinde ist ihre Siedlungsvielfalt.

Westlich der Weser, südwestlich von Sulingen liegen im Bereich der Sulinger Geest die drei Orte Wehrbleck, Strange und Nordholz.(1) Im Westen und Süden erstreckt sich das Wietingsmoor und begrenzt die Siedlungen. Die Ackerflächen sind relativ klein und befinden sich jeweils in direkter Nähe zur Siedlung. Im Falle von Nordholz ist die „Auenorientierung“ (Seedorf) offenkundig; bei Wehrbleck wird sie erst erkennbar, wenn die Höhenunterschiede und die nordöstlich des Dorfes vorhandene Niederung berücksichtigt werden. Wehrbleck und Nordholz sind alte Siedlungen. Nordholz ist bis in das 20. Jahrhundert im Kern eine Doppelhofanlage geblieben, vermutlich hervorgegangen aus einem alten Meierhof; Wehrbleck dagegen ist schon im 18. Jahrhundert ein sozial und räumlich stark differenziertes Dorf. Die am Rande des Pagenmoors auf Heidesand angelegte Siedlung Strange schließlich gehört einer jüngeren Siedlungsphase an, und besitzt nur geringe, nahezu bedeutungslose Ackerflächen.(2) Bemerkenswert sind diese drei Siedlungen deshalb, weil sie ein Beispiel für die Dynamik und Variationsbreite ländlicher Siedlung bilden.

Die Verteilung der Höfe innerhalb des Dorfes legt die Annahme nahe, dass Wehrbleck wie Nordholz ursprünglich aus zwei Meierhöfen bestanden hat, die zwischen Feucht- und Grünland im Nordosten und dem Ackerland im Westen lagen. Der geteilte Hofraum der beiden halben Höfe deutet darauf hin, dass sie aus einem Meierhof hervorgegangen sind. Östlich von ihnen entwickelten sich die Kötnerstellen. Im 16. Jahrhundert verfügte Wehrbleck schon über 12 Hofstellen, wobei einem Meierhof zwei halbe Höfe, acht Kötner und ein Brinksitzer gegenüberstanden.(3) Bis 1677 verdichtete sich die Bebauung bei den Kötnerhöfen, während die großen Hofräume der drei Meier unangetastet blieben. Außerdem dehnte sich der Ort nach Norden au 1677 hatte sich die Zahl der Hofstellen durch die Ansetzung von Kleinstellen auf 18 erhöht.(4) Neben der Zunahme der Kleinstellen ist die innere Differenzierung der Kötner bemerkenswert, die in Fahrkötner (mit Pferdebesitz), halbe Fahrkötner, Handkötner, Dreiviertel- und Viertelhandkötner unterschieden werden. Die Größe des Landbesitzes wurde anhand der Aussaatmengen angegeben.(5) Der größte Hof Nr. 1 hatte 8 Malter 6 Scheffel Aussaat, die beiden Halbmeier hatten ca. 5 ½ Malter, die Kötner zwischen drei und vier Malter, die Brinksitzer zwischen 0 und 2 Malter Aussaatflächen. Geht man davon aus, dass ein die Aussaatmenge von einem Himten („Himtsaat“) etwa 1/3 Morgen entsprach, so wären das beim Meier ca. 53 Morgen Ackerland, bei den Halbmeiern ca. 33 Morgen und bei den Brinksitzern bis zu 10 Morgen, also insgesamt kleine Flächen, die auf die große Bedeutung der Viehhaltung hinweisen.(6) Bei der Bewertung der Hofgrößen muss zudem die geringe Bodengüte berücksichtigt werden.

1677 nennen die Akten für die 18 Wehrblecker Höfe insgesamt 35 Pferde, also knapp 2 je Hof, 8 Fohlen, 76 Kühe, 71 Rinder, 48 Schweine, 10 Bienenstöcke und 169 Schafe.(7) An dieser Aufstellung ist zunächst der Pferdebesatz bemerkenswert, denn die Unterschiede zwischen den einzelnen Hofklassen waren erstaunlich gering, bzw. teilweise nicht vorhanden. Alle Meier hielten zwei Pferde, die Kötner dagegen zwei bis drei und selbst die beiden Brinksitzer und einer der vier Beibauern hatten zwei Pferde, während von den übrigen drei Beibauern nur einer ein Tier hielt. Ein ähnliches Bild bietet sich bei den Kühen und den Rindern, wo die Kötner etwas mehr Tiere als die größeren Meierhöfe hielten, während die Zahl der von den Kleinstellen gehaltenen Tiere kaum unter der der größeren Höfe lag. Unterschiede zwischen großen und kleinen Höfen sind dagegen bei den Schweinen auszumachen, denn die Schweinehaltung war nicht nur insgesamt (mit 48 oder 2,67 Tieren je Hof) unbedeutend, unter den Kleinstellenbesitzern (Brinksitzern und Beibauern) gab es nur zwei, die überhaupt (jeweils zwei) Tiere hielten. Gering war ebenfalls die Bienenhaltung und die Schafhaltung (insgesamt 169 Tiere waren auf acht Herden verteilt).

Wie sehr die Viehhaltung mit den genossenschaftlichen Nutzungsrechten korrespondierte, zeigen die Einträge in dem genannten Lagerbuch. So heißt es zum Vollmeier Hinrich Graue:

„Mast in privato: Hat Eichen bey dem Hause stehen, da Von Bey Voller Mastzeit etwa 4 ad 5 Schweine gefeistet werden können. In Communio Er mit der Dehlzucht auff den Weddigeloh Berechtiget.

Gemeine Weide: Leßet dessen Vieh promiscui in der finckenstelle von Weddigeloh gehen und weiden, und auff den umbliegenden Heiden. Fewerung: Grabet Torff auff seinen Platze auf der Luuckflüße, hinter dem Holtze gewandt. Plaggen und Heidmatt: Ist gleich bey dem dorff, vorne schon angezeiget, Berechtiget. Schäffereye: Hat itzo keine, muß aber sonsten dieselben auff der Heide und morasten nach Barver zu gehen und weiden lassen." (8)

Dieser Auszug verdeutlicht die schon beschriebenen Elemente dörflicher Wirtschaft und lässt auch erkennen, weshalb gerade die Kleinstellen zwar über einen relativ großen Viehstapel, aber nur wenig Schweine verfügten. Der umfangreiche Rindviehbesatz musste den geringen Landbesitz kompensieren und wurde durch die genossenschaftlichen Nutzungsrechte erleichtert. Dagegen war die Schweinehaltung an Mastrechte gebunden, die nur bei den größeren Hofstellen mit entsprechenden Eichenbeständen vorhanden waren. Erklärungsbedürftig bleibt allerdings die bis zu den Kleinstellen reichende Pferdehaltung. Dies deshalb, weil Pferdehaltung teuer war, Pferde sind anspruchsvolle Esser, was für Kleinstelleninhaber eine große finanzielle Belastung sein konnte. Entweder war der Prestigegewinn durch Pferdehaltung so hoch, dass selbst diejenigen, die wenig Land hatten, sich darauf einließen, oder sie hatten weitere Einnahmen, etwa durch Fuhrarbeiten. Da durch die Flur Wehrblecks eine wichtige Chaussee führte, könnte dies auch eine Erklärung sein.

Die in dem kurzen Textauszug aufgeführten Flurbezeichnungen (Weddigeloh, Finkenstelle, Luuckflüße) lassen die vorindustrielle Flur als ein komplexes, durch unterschiedliche Nutzungsrechte und Zuordnungen differenziertes Gebilde hervortreten, dessen wahre Bedeutung sich nur denjenigen erschloss, die das Gebiet aus eigener Anschauung kannten.(9)

Die eindeutige und klare räumliche Verteilung der einzelnen Hofklassen zeigt, dass das soziale Gefüge sich auch als eine räumliche Figur oder Konfiguration spiegelte. Welchen Raum jemand im sozialen Raum Dorf einnahm, war immer zugleich ablesbar an seiner räumlichen Lage.

Neben Wehrbleck gab es noch die beiden Vollmeier in Nordholz (12 bzw. 5 ½ Malter Aussaat) und fünf Stellen in Strange nördlich von Wehrbleck. Diese Siedlung entstand auf einer Sanddüne am Moor (daher der Flurname Strange), diente den Wehrblecker Bauern als gemeinsames Weiderevier (Anger) und wurde gegen den teilweise erbitterten Widerstand der Wehrblecker Einwohner im 18. Jahrhundert weiter ausgebaut.(10) Bis 1769 (11) entstanden hier sechs Stellen, die allesamt als Brinksitzer bzw. Beibauern eingestuft wurden und mit Ausnahme des ersten Brinksitzers (3 Malter Aussaat) über kein eigenes Land verfügten. In Wehrbleck selbst nahm die Stellenzahl bis 1769 um ebenfalls sechs auf nunmehr 24 Stellen zu. Das insgesamt aus Norddeutschland, ja ganz Deutschland bekannte Ansteigen der ländlichen Bevölkerung fand auch in diesen beiden Siedlungen statt.

Das Siedlungsgebiet um Wehrbleck wies damit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Nebeneinander von drei Siedlungsformen auf: einen Doppelhof, eine relativ geschlossene Bauernsiedlung und eine früheuzeitliche Nachsiedlung. Unverkennbar war zudem die Zunahme der Kleinstellen seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, womit eine Entwicklung fortgesetzt wurde, die schon im 16. Jahrhundert begonnen hatte.

Angesichts der ungünstigen naturräumlichen Voraussetzungen – Heide und Moor prägten in erster Linie die Siedlungslandschaft, während die Ackerflächen relativ klein und den älteren Hofstellen vorbehalten waren – stellt sich die Frage, welche wirtschaftliche Grundlage die Kleinstellen hatten. Gewiss nutzten sie die genossenschaftlichen Flächen zur Viehhaltung, was den erwähnten Widerstand der alten Siedler gegen die neuen Stellen provozierte, stachen Torf und arbeiteten teilweise bei den Bauern. Das allein dürfte aber nicht ausgereicht haben. Als weitere Erwerbsquelle taucht in den Quellen der „Hollandgang“ auf. (12) Eine Aufstellung von 1767 nennt aus Wehrbleck 15 Männer, die nach Holland gingen um zu „baggern“ (Torfstechen), Gras zu mähen oder Gartenarbeit zu verrichten.(13) Die meisten verließen ihren Ort Mitte April und kehrten im Juni und Juli zurück. Sie verdienten Brutto zwischen 18 und 40 Reichstaler (Rt.), wovon nach Abzug der Lebensmittel,(14) der Reisekosten und der Kleidungskosten 6 bis 21 Rt. übrig blieben. Insgesamt betrug der Nettoverdienst, der auf diese Weise in das Dorf kam, über 200 Rt.. Bis auf zwei Neubauer handelte es sich im übrigen um Häusler, die in den landesherrlichen Registern um dieses Zeit nicht erwähnt werden. Damit ist also die Frage, welche Existenzgrundlage die kleinen Stätten hatten, nur zu einem Teil zu beantworten.

Spannend waren die Interviews. Sie entstanden im Kontext eines Kurses zur Dorfgeschichte. Geklärt werden sollte, weshalb sich die Dorfbewohner überhaupt mit Dorfgeschichte beschäftigten. Die Interviews wurden in den Wohnungen der Dorfbewohner geführt und so kamen wir in viele verschiedene Wohnräume, erlebten unterschiedliche Formen der Begrüßung der Gastfreundschaft. Das Überraschende für uns war die große Freude, die wir unseren Gastgebern bereiteten. In dieser Zeit wurde teilweise sehr kontrovers über die Dorferneuerung in Wehrbleck diskutiert. Die Tatsache, dass wir Historiker keine „Partei“ vertraten, die bei der Dorferneuerung aktiv war, ließ uns in den Augen unserer Gesprächspartnerinnen (es waren mehr Frauen als Männer) eher vertrauenswürdig erscheinen. Ich will hier nicht die Ergebnisse aller Interviews im Details vorstellen, sondern drei Geschichten heraus greifen, die mir besonders wichtig erscheinen.

Zum einen die Rolle der Frauen im Dorf. Es waren ohnehin mehr Frauen als Männer, mit denen wir sprachen. Sie waren meist in einem Alter zwischen 50 und 60, die Gespräche fanden vormittags statt, meist in Phasen, in denen keine Hausarbeit anfiel. Eine Gesprächspartnerin erzählte besonders ausführlich und ihr habe ich zwei besondere Geschichten zu verdanken, nein, es waren eigentlich drei oder sogar vier. Sie begann ihr Gespräch mit der Feststellung „Das Reden, das ist hier nicht unsere große Sache.“ Und dann setzte sie noch einen „drauf“: „Wi könnt platt snacken. Eck snack blos platt.“ Die Aussage, dass sie nur plattdeutsch sprechen könne, stimmte natürlich nicht. Sie sprach nicht nur ein ausgezeichnetes Hochdeutsch, sie war außerdem eine begnadete Erzählerin. Und sie erzählte spannende Geschichten.

Sie lebte in Strange, also dem Ausbauort der frühen Neuzeit. Die Betriebe waren immer nur klein und bescheiden gewesen.  „Wir sind kein Einzelfall mit dem bescheidenen, so sind hier in Strange viel.“ Die einfachen Verhältnisse, die Geschichte der sparsamen und einfachen Emporkömmlinge, die sich zwischen den alteingesessenen Betrieben in Wehrbleck und Nordholz gleichsam durchmogeln mussten, gehört zu ihrem Selbstverständnis. Zu diesem Selbstverständnis gehört die Arbeit: „Von Arbeiten weiß ich viel, wir mußten viel arbeiten. Kindheit gab es hier nicht.“ Die Abgrenzung gegenüber den alten, großen Betrieben, denen es heute schlechter geht als den „Kleinen“ im Dorf, wird von ihr in mehrfachen Wendungen benutzt. Dabei sieht sie sich aber als Teil des Dorfes, und nimmt danach wieder Partei für das „alte“ Dorf und dessen Bewohner.

Zu der Selbstbeschreibung - und das war für mich damals besonders interessant - gehörte die Rollenbeschreibung von Mann und Frau. Sie leitete übrigens zu dem Thema über, indem sie über Hexen erzählte. Früher, so meinte sie, hätte sie es in Ordnung gefunden, wenn Hexen verbrannt wurden.

Und dann kommt meine liebste Passage:

Sie beginnt mit Überlegungen dazu, wer wohl wirklich als Hexen bezeichnet worden sind:

„Heute meine ich, wer würde heute nicht alles als Hexe verbrannt werden. Das waren diese moderne Frauen von früher, die schlicht und einfach sagen: Ihr Männer glaubt, ihr seid mehr und seid klüger, das seid ihr nicht, wir Frauen sind genauso klug.“

Was dann folgt, ist die Beschreibung eines dörflichen Schützenfestes aus der Perspektive einer Frau. In dieser Form hatte ich sie früher nie gehört:

„Und wenn ich die Männer so beobachte, habe ich inzwischen den Eindruck, die Frau kann mehr aushalten, und manchmal leistet sie auch mehr. Was unsere Dorffrauen hier leisten und überhaupt, Schützenfest, gucke ich mir das an, das geht ja wohl über ihre Kraft. Die Frau - na morgens machen wir noch alle den Stall, Mann und Frau, dann hat die Frau mittags zu sehen, daß die Kinder angezogen werden, alles wird hübsch und fein. Dann geht Vatter aus dem Haus, die rausgeputzten Kinder laufen hinterher, und neuerdings sind die Frauen auch noch mit im Verein, rennen sie da mittags auch noch - ich nicht, gucke mir das an - rennen sie da mittags auch noch hinterher, machen den Ausmarsch mit, trinken wer weiß nich. Abends müssen sie nach Haus, füttern das Vieh, und wieviel Vieh haben sie heutzutage! Macht die Frau allein. Vatter muß es ja gut haben.  Da kommt sie, wenn sie das Füttern fertig hat, möglichst schnell: Welche Frau ist zuerst wieder auf dem Festzelt, ist ja ein Zeichen von Tüchtigkeit, schon wieder frisch da zu sein. und dann geht es die Nacht weiter. Morgens ist Vatter derart betrunken, daß Mutter den ganzen Stall alleine macht, das ist jetzt der zweite Tage. Jetzt geht es wieder los. Jetzt kann Mutter sich ein, zwei Stunden hinlegen, und dann werden wieder die Kinder rausgeputzt. Vatter rausgeputzt, der inzwischen ja den Anzug vollgekleckert hat, der wird wieder geputzt und gebügelt, da haben sie ja nur einen von, vom Schützenrock.Und nun den zweiten Tag, denn komm ich den zweiten Tag da an - ich mach diesen ganzen Zinnober nich mit, ich mach hier unser Vieh, habe dann Dienst, (ist Küsterin), das mache ich auch gern, diese Sauferei, da habe ich mich nie reingestürzt, und dann komme ich abends nach dem Füttern da wieder an, dann sitzen alle Frauen, sitzen da, dann sind sie wirklich geschafft. Aber die Männer, die sind nachmittags um vier betrunken gewesen. Und die Frauen: dreimal habe ich ihnen nun schon erzählt, allein den Stall gemacht, den Haushalt und die Kinder,und die quakende Oma zuhause, die denn sagt: Mutt dat wen, dat je so vel suupt. Und den andern Tag, , das ist nun der dritte Schützenfesttag dann treffen sich die Männer wieder und hocken da alle rum, und machen Schützenfestnachlese, na ja, denn kann Mutter sich auch mal zurückziehen. Das würden Männer nicht aushalten.“

Selbstbewusstsein über die eigene Leistungsfähigkeit und gleichzeitig das Akzeptieren der Rollenverteilung gehen Hand in Hand. Diese Haltung spiegelt die Ambivalenz dörflichen Handelns wider. Erkennen, dass etwas eigentlich nicht in Ordnung ist und das gleichzeitige Inkaufnahmen dieses Zustandes. Diese Erfahrung, als Frau eine geringere soziale Bedeutung als die Männer zu haben, sich teilweise auch bewusst zurück zu nehmen, in der Öffentlichkeit nicht so zu agieren wie die Männer. Doch auch hier gibt es keine Eindeutigkeit, denn sie beschreibt wieder mit einem gewissen Stolz, dass die Frauen in unserem Volkshochschulkurs in großer Zahl beteiligt waren und dabei selbstbewusst auftraten.

Ein weiteres, immer wieder angesprochenes Thema waren Tabus, Themen über die man/frau nicht sprechen durfte. Das waren, vielleicht nicht sehr überraschend zunächst der Krieg und der Nationalsozialismus. Doch daneben war es auch ein Thema wie Hexen, etwas, das die Menschen in Wehrbleck offenbar sehr ernst nahmen und über das mehrere Geschichten kursierten.

Die Argumentationslinien waren oft in seltsamer Weise verbunden. Das galt etwa für die Selbstzuordnung der Interviewpartner. Offenkundig gab es mehrere, sich teilweise überschneidende Rollenbilder und Identitäten. Die eine wurde schon mehrfach angesprochen, die Geschlechterperspektive. Sie war offenkundig ausgeprägt. Was man oder Frau machten, war teilweise klar geregelt und wurde auch nur begrenzt in Frage gestellt. Der Hinweis auf erweiterte Partizipationsmöglichkeiten der Frauen wurde zwar mehrfach gegeben, aber dennoch wurde deutlich, dass es klar abgegrenzte Bereiche, in denen Frauen oder Männer agierten.

Ein zweites Ordnungskriterium bildete die räumliche Zuordnung. In einem der Interviews wurde auf die große Bedeutung der Nachbarschaft verwiesen. Sie war ein rein räumliches Ortungsmittel. Wer zur Nachbarschaft, einem klar umgrenzten Raum, dazu gehörte, hatte bestimmte Rechte und Pflichte. Nicht Verwandtschaft oder sozialer Status entschieden dabei. Wer nicht in einer Nachbarschaft wohnte, bzw. durch Nichtmitmachen signalisierte, dass er nicht dazu gehören wollte, gehörte nicht dazu.

Nicht in dieser Form räumlich, aber doch mit einem räumlichen Bezug funktionierte ein weiteres Kriterium: die alten und die neuen Dorfbewohner. Die einen waren eng mit der alten Landwirtschaft verbunden, die anderen nicht. Die einen lebten teilweise auf großen, voneinander getrennten Höfen, die anderen eng beieinander. Das hieß aber nicht, dass die „alten“ Dorfbewohner eine homogene Gruppe bildeten, denn neben den genannten Differenzierungen gab es auch eine klare soziale Differenzierung: die großen Betriebe und die „kleinen Leute“. Abhängigkeit von den anderen einerseits (das „Triezen“ der Kleinen durch die Großen wurde immer wieder erwähnt), die einfachen, „armen“ Verhältnisse andererseits wurden mehrfach thematisiert. Dabei nahmen die ehemals Kleinen durchaus mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis, dass die ehemals sozial und ökonomisch starken Bauern durch den Strukturwandel massive Einbußen erlitten hatten und ihre alte dominante Position im Dorf längst nicht mehr wie früher ausfüllen konnten.

Leben und Selbstverortung im Dorf war also komplexer Prozess. Die Regeln waren komplex und oft konnte nur jemand mit einer langjährigen Erfahrung sehen, was er in welcher Situation tun durfte oder tun konnte.

Die Komplexität der Dorflandschaft korrespondierte also mit komplexen sozialen Verhältnissen und Beziehungen. Dabei kamen wir aber oft nicht so weit, wie wir es gern getan hätten. Es gab immer wieder Grenzen, die wir nicht überschreiten konnten.

Verweise:

1 Die folgende Darstellung nach Schneider, Karl H, Siedlung und Sozialstruktur - Erläuterungen zur Geschichte von Wehrbleck, in: Heinar Henckel, u.a, Hrg, Kirchdorf. Eine interdisziplinäre Untersuchung ländlicher Lebenswelt am Beispiel einer niedersächsischen Gemeinde. Hannover 1991, 21-36, insbes. 27-30. Knappe Angaben über die Siedlungen jetzt auch im GOV Hoya.

2 Cordes, Rainer, Die Binnenkolonisation auf den Heidegemeinheiten zwischen Hunte und Mittelweser (Grafschaft Hoya und Diepholz) im 18. und frühen 19. Jahrhundert. (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens / Rainer Cordes 93) Hildesheim 1981.

3 Erbregister von 1581 (NHStAH Hann. 74 Sulingen 17).

4 Die Zahl der Meier war konstant geblieben, die der Kötner nur um eine Stelle angewachsen. Lagerbuch von 1677 (NHStAH Hann. 74 Sulingen 23).

5 Dazu etwa Köster (1977). Die Umrechnung dieser Angaben in heutige Flächenmaße ist sehr schwierig.

6 Engel, Franz, Tabellen alter Münzen, Maße und Gewichte zum Gebrauch für Archivbenutzer. (Schaumburger Studien 9) Rinteln 1965, S. 5 und 8. Eingehender und differenzierter für Rotenburg/Wümme behandelt dies Thema Köster (1977), 13-17). Siehe auch Hirschfelder, Heinrich, Herrschaftsordnung und Bauerntum im Hochstift Osnabrück im 16. und 17. Jahrhundert. (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen 16) Osnabrück 1971, 53 für Osnabrück.

7 NHStAH Hann. 74 Sulingen 23. Hierbei sollten die Abweichungen zwischen den erhobenen und den tatsächlichen Werten jedoch berücksichtigt werden.

8 Ebd. S. 413 f.

9 Allgemein zur Flurnamenforschung Scheuermann, Ulrich, Flurnamenforschung. Bausteine zur Heimat- und Regionalgeschichte. (Schriften zur Heimatpflege 9) Melle 1995.

10 NHStAH Hann. 74 Sulingen 1495. Allgemein Cordes (1981).

11 Ebd. (Nachträge).

12 Hierzu u.a.: Eiynck, A., u.a, Hrg, Wanderarbeit jenseits der Grenze. 350 Jahre auf der Suche nach Arbeit in der Fremde, Assen, Cloppenburg, Hoorn, Lingen 1993.

13 NHStAH Hann. 74 Sulingen 1536.

14 Fast alle nahmen zwischen 40 und 50 Pfd. Speck und etwas Fahrgeld mit.

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