Mein Dorf

Ursprünglich hatte ich ein Kapitel zu meinem Dorf geplant, das ich hier ausnahmsweise nicht nennen möchte (auch wenn es nicht schwer sein wird, es zu lokalisieren), dann habe ich den Gedanken, da zu persönlich, wieder verworfen, und nun kann ich nicht schlafen (in der Sylvester) und sitze hier und schreibe.

Mein Dorf liegt in einem kleinen Tal, umgeben von 70 bis etwas über 100 m hohen Hügeln südlich vom Steinhuder Meer. Der nördliche Hügel, Berg genannt, wird von einer Gaststätte geprägt und bietet einen wunderbaren Ausblick auf das Steinhuder Meer. Der südliche Hügel wird von der Kirche eines der drei Nachbardörfer beherrscht, wo ich getauft und konfirmiert wurde.
Der westliche Hügel wird ebenfalls von einem markanten Gebäude, einem sog. Schlösschen dominiert. Nur der östliche Hügel, auch recht weit weg von unserem Haus, hatte keine Landmarke zu bieten. Übrigens bietet das auf "digireg" zu sehende Bild einen Blick von dem Dorf mit der Kirche über unser Dorf hinweg in Richtung Steinhuder Meer.

Meine Familie großmütterlicherseits kommt aus diesem und einem der drei Nachbarorte. Der Vater meiner Großmutter war Schneider, sie hatte noch vier jüngere Geschwister. Der Vater starb schon früh in den 1920er Jahren an einem Blinddarmdurchbruch. Danach hatte sich die älteste Tochter um ihre jüngeren Geschwister zu kümmern - wobei der jüngste Bruder zeitweise zu Verwandten ins Nachbardorf gegeben wurde. Die Mutter musste sich mit Gelegenheit durchschlagen. Es war eine typische Kleineleutefamilie, die zur Miete wohnte, sich als Schneider, Handlanger, Tagelöhner durchs Leben brachte. Meine Großmutter wurde in dem Altenteilerhaus eines Bauern groß, ihr ältester Bruder lebte dort noch als erwachsener Mann. Die Abhängigkeit von den Bauern wurde somit schon in den Wohnverhältnissen sichtbar. Anfang der 1920er Jahre wurde auch in unserem Dorf Forstland zu Siedlungsland und damit bot sich die Chance, etwas Land für den Hausbau zu erwerben. Während andere Dorfbewohner diese Chance schon in den 20er Jahren ergreifen konnten und dabei noch Kleinbauernstellen entstanden (zu den Häusern gehörten noch ein paar Morgen Land und die Häuser hatten sogar richtige Dielen für Ackerwagen und größere Ställe), gelang meinen Großeltern erst Mitte der 1930er Jahre der Schritt in die Selbständigkeit. Inzwischen hatte meine Großmutter meinen Großvater kennen gelernt und geheiratet. Mein Großvater stammte aus dem Ruhrgebiet, hatte sein Elternhaus aber früh verlassen, nachdem seine Mutter gestorben war und sein Vater eine ungeliebte Stiefmutter geheiratet hatte. Über Umwegen landete er samt seinem Bruder in meinem Heimatdorf, er konnte damals als Ziegeleiarbeiter in der zu unserer Gemarkung gehörenden Ziegelei beginnen - im Tonloch, wo Schwerstarbeit geleistet werden musste (später arbeitete er als Brenner auf dem Ofen - wirklich AUF dem Ofen!). Das Forstland, welches meine Großeltern für den Hausbau erwerben konnten, insgesamt ein halber Morgen Land, musste er noch von den Stubben der dort einst stehenden Bäume gerodet werden, später füllten wir das Gartenland an, weil es in einer Senke lag und schnell vernässte. Eigenes Land hatten meine Großeltern nicht, sondern nur ein paar Morgen Pachtland. Das unterschied uns von den älteren Siedlern, die nicht nur größere Häuser mit eigenen Wirtschaftsabteilungen hatten, sondern auch eigenes Land besaßen. Wir nutzten lediglich einige Morgen Pachtland, für deren Bewirtschaftung wir auf die Dienste unserer Bauern zurück greifen mussten - was diese sich durch Tagelöhnerarbeit meiner Großeltern und Eltern, besonders meiner Großmutter und meiner Mutter entgelten ließen. Wir waren keine Ausnahme, sondern fast alle Frauen aus unserer Siedlung mussten für das Eggen, Pflügen und Ernteeinfahren Tagelöhnerdienste auf den Bauernhöfen verrichten. Ein großer Teil meiner Kindheit und der meiner Mitschüler, die fast alle aus gleichen Verhältnissen kamen, fand also nicht nur draußen auf dem Feld, sondern auch auf dem Feld „unserer“ Bauern statt, wo wir kleine Handarbeiten verrichteten, aber auch auf dem Traktor des Bauern mitfahren durften.

Kindheit war aber, vom Winter abgesehen, ein Leben draußen: auf den Feldern und dem Wald, für uns der beliebteste Ort zum Spielen (da viel möglich war wie das Bauen von Hütten und zugleich die Erwachsenen weitgehend ausgesperrt werden konnten).
Heute, im Nachhinein, wird mir deutlich, dass diese Lebenssituation im Leben vieler Unterschichtangehöriger einen tiefen Einschnitt darstellte. Die Generation meiner Großeltern war die erste aus der langen Reihe von Tagelöhnern, Schneidern, Schustern, Webern und die als Mieter gelebt hatten, denen es gelang, eine eigene häusliche Existenz mit Haus und Grund (und sei er noch so klein) aufzubauen. Noch bestand zwar die Arbeitsbeziehung bei den Bauern, aber auch die begann sich aufzulösen. Mit den billiger werdenden Nahrungsmitteln und besser bezahlten außerlandwirtschaftlichen Erwerbsmöglichkeiten besonders für Frauen lohnte sich der enorme Aufwand für ein paar Morgen Pachtland nicht mehr.

Es waren die Frauen, deren Verhalten die Spielregeln änderten. Durch ihre Arbeit bei der dörflichen Molkerei oder der Conti in Hannover und anderen außerdörflichen Arbeitgebern konnten sie weiterhin einen erheblichen Teil zum Familieneinkommen beitragen, ohne die abhängige und schlecht bezahlt Landarbeit zu verrichten.

So wurden in den 1960er Jahren innerhalb kurzer Zeit aus uns halbproletarischen/halbagrarischen Existenzen reine Arbeiter- und Angestelltenexistenzen mit einem ausgeprägten Aufstiegsbedürfnis. Das war nicht mal das Ende des „alten Dorfes“, sondern einer dörflichen Konfiguration, die es in dieser Form nur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegeben hat. Diese Kombination von „sesshaft“ gewordenen Arbeiterbauern, bei denen die Männer einer nichtagrarischen Arbeit nachgingen und die Frauen einer halbagrarischen, dürfte es nur in dieser Zeit nach der Weimarer Republik gegeben haben, auch wenn an diesem Muster vieles aus früherer Zeit bekannt sein dürfte.

Die Jahre des Übergangs, also die 1950er und 1960er Jahre, erscheinen im Rückblick der Generation meiner Eltern als die goldenen Jahre. Das ist auch kein Zufall, kamen doch verschiedene Aspekte zusammen: Der Krieg war überlebt worden, die Väter, sofern sie den Krieg überlebt hatten, waren wieder zurück. Es war die Jugendzeit und die ersten Jahre des Erwachsenenlebens, der Eheschließung und der Familiengründung, zudem kaum von Arbeitslosigkeit geprägt. Es ging langsam voran, vieles wurde besser. Die harte Arbeit, die typisch war für diese Jahre, war nichts Besonderes, das war seit Generationen eingeübter Alltag gewesen.

Der Aufbruch und die Freude daran überwogen vermutlich alles andere, im Vergleich zu den Zeiten noch wenige Jahre zuvor waren die Fortschritte unübersehbar. Die Wohnverhältnisse besserten sich, die Einkommen nahmen zu, der erste Motorroller wurde gekauft, später sogar das erste kleine Auto - bis dahin unvorstellbar für Angehörige der ländlichen Unterschichten. Die eigene Landwirtschaft wurde aufgegeben - Zeichen dafür, dass die Arbeitsbedingungen deutlich besser wurden, die Einkommen stiegen und damit sank die Abhängigkeit von den bäuerlichen Arbeitgebern.
Die Modernisierung des Dorfes und der Wohlstand der gesamten Gesellschaft hatte damit direkten Einfluß auf die persönlichen Lebensverhältnisse aller Dorfbewohner.

Gleichzeitig verschwanden die Bauern aus zumindest meinem Wahrnehmungskreis. Das "alte" Dorf bildete eine andere, zunehmend fremde Welt. Allerdings gab es nach wie vor die Dorffeste, wie das Schützenfest oder das Feuerwehrfest. Aber da spätestens seit etwa 1970 nicht nur die kleinen Pachtflächen verschwanden und sich damit endgültig eine moderne, kaum noch Personal einsetzende Landwirtschaft durchgesetzt hatte, verschwanden auch die alten Arbeitszusammenhänge. Zudem verlor das Dorf mit seiner Schule einen wichtigen sozialen Ort. Von nun an gingen alle Kinder vom ersten Schuljahr an in das benachbarte Hagenburg oder Sachsenhagen. Nur noch ein Kindergarten blieb, bzw. kam dazu, denn wir älteren Kinder kannten Kindergärten nur aus Büchern.
Ich selbst habe diese Phase nur noch am Rande wahrgenommen, war ich doch seit 1964 "Fahrschüler", ging in Hagenburg, dann in Wunstorf zur Schule. Was in meinem Heimatdorf geschah, berührte mich immer weniger. Und ab 1974 war ich hier gar nicht mehr zuhause.

Dabei fanden gerade in den 1970er Jahren tiefe Veränderungen statt, die auch die zuweilen zu findende Annahme, die 1970er Jahre seien, etwa im Vergleich zu den epochalen Veränderungen der späten 1960er Jahre, gar nicht so entscheidend gewesen. Eher das Gegenteil war der Fall. Einerseits machten sich nun die verstärkten Anstrengungen um mehr Bildung im Dorf bemerkbar (ich war das lebende Beispiel dafür), andererseits wirkten sich gleichfalls die seit Mitte der 1960er Jahre voran getriebenen Zentralisierungs- und Modernisierungsbemühungen für die Dörfer aus. Mit unserer Schule hatte es angefangen, dann folgte die Molkerei (kleine Molkereien galten als nicht "überlebensfähig", ihre Schließung wurde subventioniert). Unser Kleinbahnhof verlor seine Funktion mit dem Ende der Kleinbahn (das war schon in den 1960er Jahren der Fall gewesen) und schließlich fand die Gemeindereform statt. Ein quälender Prozess, an dessen Ende der Verlust der Selbstverantwortung im Dorf stand.
Damit verloren die bisherigen dörflichen Eliten, d.h. meistens die Bauern, ihren letzten wirklichen Einfluss (wenn man einmal die besondere Verfügungsmöglichkeit über Land einmal beiseite lässt). Dass in den folgenden Jahren auch noch weitere Einrichtungen wie die Ziegelei, dann die Bäckerei, ein (von zweien) Landwarenhandel schlossen, macht den strukturellen Wandel vollständig.
Innerhalb weniger Jahre war aus einem kleinen, nur 300 Einwohner zählenden Dorf, das aber dennoch über ein reichhaltiges wirtschaftliches und soziales Leben verfügte, ein Wohnort, der aber angesichts der Entfernung von anderen Orten und nun bar jeder Infrastruktur auch nicht recht zum Wohnen taugte und lange Zeit nur wenige Zuzügler kannte. Rein optisch war allerdings die Idylle perfekt, so dass das Dorf interessant wurde für intellektuelle Zuzügler, die sich hier mitten im alten Dorf ihre Dosis Landleben ziehen durften. Immerhin feierte dies Dorf dann - unterstützt durch die neue Dorfprominenz und deren politische Verbindungen in die Landeshauptstadt - das "kleinste Schützenfest der Welt" und stellte auch andere allerhand interessante Projekte auf. Aber das ist ein ganz anderes Dorf als das meiner Kindheit und Jugend.

Das alles fand statt, als ich schon längst nicht mehr hier lebte. Konfrontiert wurde ich damit vor anderthalb Jahren, als ich darum gebeten wurde, mir das Dorfarchiv, das bei unserem früheren, jetzt über 80 Jahre alten Bürgermeister lag, zu sichten. Vor allem sollte diese Überlieferung gesichert werden. Beim Gespräch mit dem früheren Bürgermeister, dessen Vater zwischen den 1930er Jahren und 1960 Lehrer an unserer Schule war, wurde mir deutlich, wie anders das Bild dieses Dorfes war als ich es kannte. Die Familie dieses Bürgermeisters hatte außerdörfliche Wurzeln; sein Vater war zeitweise mit Ernst Jünger zur Schule gegangen (und Jünger hat ihn wohl zweimal besucht); meine unterbäuerliche Sicht des Dorfes wäre also zu ergänzen um eine bäuerliche - aber dafür ist es wohl zu spät.

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