Das ambivalente Dorf

Die Beantwortung der Frage, was ein Dorf ist, hängt immer sehr stark von der Perspektive des Berichtenden ab. Über das jetzt vorzustellende Dorf gibt es zwei Geschichten. Die eine wurde sogar publiziert, die andere nicht. Die erste entstand in einer Phase, in der sich nach längerer Abstinenz sozialwissenschaftliche Forschung sicher wieder dem Dorf zuwandte. Dies hatte vermutlich auch damit zu tun, dass mit der sozialen Öffnung der Universitäten und Hochschulen seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre vermehrt Dorfbewohner studierten und ebenfalls ihre Lebenswelt als eine relevante wahrnahmen. Forschung widmeten sich ab etwa 1980 vermehrt den ländlichen Verhältnissen. Dies lag sicherlich auch daran, dass seit Mitte der 1970er Jahre ein Paradigmenwechsel statt gefunden hatte. War bis dahin alles Ländliche eher mit Blut- und Boden, also rechtem bzw. nationalsozialistischem Gedankengut verbunden gewesen, so erfuhr das Land plötzlich eine radikale, sich eigentlich bis heute nicht korrigierte, Nuebewertung. Für mich ist dieser plötzliche Neuanfang am besten am Beispiel der Forschungen von Günther Franz zum Großen Deutschen Bauernkrieg nachvollziehbar. Franz gehörte bis in die 1970er Jahre zu den bedeutenden deutschen Agrarhistorikern. Seine in einer Vielzahl von Auflagen erschienene Geschichte des Bauernkrieges und seine zweibändige Quellensammlung zur Geschichte des deutschen Bauerntums - man beachte das "tum" - machten ihn zu einem der am meisten gelesenen Agrarhistorikern in Deutschland, sofern Agrargeschichte überhaupt auf Interesse stieß. Dass Franz mit seinen Arbeiten Mitte der 1930er Jahre begonnen hatte, dass sein Begriff von Bauerntum Bezüge zu einer anderen Geschichte aufwies, wurde meist übersehen. Franz war es auch, der einerseits dem Bauernkrieg von 1525 etwas Episodenhaftes zuwies - er habe keine weiteren Folgen für die deutsche Geschichte gehabt und die bäuerliche Bevölkerung als wichtigen politischen Faktor fortan ausgeschaltet. Er war auch Anfang der 1970er Jahre der Ansicht, dass die Erforschung des Bauernkrieges abgeschlossen sei - alles Wichtige sei hinreichend bekannt. Welche grandiose Fehleinschätzung! Mitte der 1970er Jahre setzte eine neue Forschungswelle an, die sich bäuerlichem Widerstand als einem zentralen Phänomen frühneuzeitlicher Geschichte und Kultur widmete. Die Entdeckung des Widerständigen und Eigensinnigen, der Proteste und Revolten durchzog die zweite Hälfte der 1970er und die gesamten 1980er Jahre. Sie passte in eine Zeit gesellschaftlichen Aufbruchs und breiterer Demokratisierung - schließlich waren wir alle, wenn nicht Revolutionäre der Jahre 1967 und 1968, so doch Sozialdemokraten und fasziniert vom Diktum des "Demokratie wagen" von Willy Brandts Regierungserklärung des Jahres 1969.

Dorf und Dorfgeschichte passten plötzlich in die Zeit. Hier gab es Neues, Spannendes zu entdecken, wurden aus den Bauern wenn nicht der Blut- und Boden-Zeit, so doch die konservativen Landleute Riehlscher Prägung, nun Vorläufer der Demokratie und des Protests gegen Atomkraftwerke oder gar den NATO-Doppelbeschluss. Die kulturwissenschaftliche und die alltagsgeschichtlichen Wenden taten das Ihrige, um sich dem plötzlich so attraktivem Lokalem und Regionalen zuzuwenden. Dass einige von uns, die wir gerade dem Dorf entronnen und an der Uni angekommen waren, um Lehrer zu werden, nun vor verschlossenen Schultüren standen und mit unserem neu erworbenen Wissen etwas Sinnvolles anfangen wollten, kam dabei noch hinzu. So begann also die Welle der bekannten und der weniger bekannten Dorfforschungen speziell von Sozialwissenschaftlern und Historikern. Es gab sogar etwas Geld dafür. Das lag wiederum an einer im Kern höchst undemokratischen Entwicklung der 1970er Jahre. Seit den 60er Jahren gab es speziell in der SPD eine Bewegung, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Verwaltungsstrukturen effizienter zu gestalten, und das hieß, vorhandene Kommunen und Kreise zusammen zu legen, um dadurch größere, leistungsfähigere und professionellere Verwaltungen zu schaffen. Dahinter dürfte auch die Erfahrung gestanden haben, dass die massive Modernisierungswelle der 1950er und 1960er Jahre nicht spurlos an den Gemeinden vorüber gegangen war. Nicht alle hatten ein Maß an Professionalisierung erlangen können, wie wir es im vorherigen Kapitel über Krainhagen erfahren haben.

Wir werden gleich im Falle Ahrbergens noch sehen, dass die Sache ganz anders ausgehen konnte. So wurde in den Bundesländern seit den 1960er Jahren an einer umfassenden Gebiets- und Verwaltungsreform gearbeitet und diese in den 1970er Jahren umgesetzt. Ihr fielen hunderte, ja tausender bisher selbständiger Gemeinden zum Opfer. Es gab einen kommunalpolitischen Kahlschlag mit entsprechenden Reaktionen in den Kommunen. Da zudem nun auch offenkundig wurde, dass das bäuerliche Dorf der Vergangenheit angehörte, wurde gegen gesteuert. Die moderne Dorferneuerung als umfassende Planungsmaßnahme war geboren und kreisste über den Dörfern. Ihre Kinder - nun ja - man muss sie nicht lieben, aber das ist ein anderes Thema. Jedenfalls brauchte eine gute Dorfernerung ein wenig historische Kompetenz. Nun, Sie werden es raten, Historiker konnten da ab und an ganz hilfreich sein.
So begannen wir also das Dorf - wieder - zu entdecken. Ende der 1970er Jahre trafen sich einige junge Wissenschaftler in Hannover, Carsten Reinecke, Albert Illien, Utz Jeggle sowie Carl-Hans Hauptmeyer, und stellten in einer gemeinsamen Vorlesung ihre Ergebnisse zur Erforschung dörflicher Verhältnisse vor. Der Titel "Annäherungen an das Dorf" belegt schon den vorsichtigen, tastenden Ansatz. Aus dieser Gruppe hatte sich Carsten Reinecke, der seit Mitte der 1970er Jahre als Soziologe an der Technischen Universität Hannover arbeitete, mit einem Dorf der Hildesheimer Börde, zwischen Sarstedt und Hildesheim in direkter Nähe zur B 6 gelegen, beschäftigt. Einer seiner Studierenden stammte aus diesem Ort, es waren Fotos gemacht, Interviews durchgeführt worden. Abschlußarbeiten waren entstanden. Auf der Basis dieser Ergebnisse stellte er in seinem Vortrag das Dorf "Barneberg" vor, in Wirklichkeit heißt es Ahrbergen. Jahre später habe ich im Rahmen der Arbeiten an dem "Profil" der AG Dorf ebenfalls in Ahrbergen und seinen Nachbarorten gearbeitet, das Ortsarchiv genutzt und ebenfalls Interview in einem studentischen Projektseminar durchgeführt. Bei mir entstand ebenfalls eine Abschlußarbeit.

Nähern wir uns also Barneberg auf verschiedenen Wegen. Ich beginne mit einer eher nüchternen Darstellung historischer und landschaftlicher Fakten. Ahrbergen liegt also zwischen Sarstadt und Hildesheim im Gebiet der Hildesheimer Börde. Das heißt also: Der Boden ist hier sehr gut, die Bodenwertzahlen liegen bei knapp unter 100, ca. 80-90, was schon fast das Optimum dessen ist, was Ackerland zu bieten hat. Gute Ackerböden wirkten sich in mehrfacher Weise auf die Siedlungslandschaft und die Dörfer aus. Zum einen: Die Dörfer sind alt, die heutigen Siedlungen dürften alle deutlich vor dem Jahr 1000 entstanden sein und dort wo sie damals entstanden, hatte es, folgen wir den archäologischen Zeugnissen, schon in der Vor- und Frühgeschichte menschliche Siedlung gegeben. Wenn sich Menschen im heutigen Niedersachsen niederließen, dann hier. Frühe Siedlung korrespondierte hier mit einer hohen Siedlungsdichte. Die hohen Erträge, die die guten Böden ermöglichten, ließen es zu, dass die Feldmarken klein blieben und somit ca. alle vier Kilometer eine Siedlung existieren konnte. Diese Siedlungen wiesen in historischer Zeit schon viele Höfe auf, es waren also schon sehr früh große Dörfer. 1644, also in der Endphase des Dreißigjährigen Krieges, werden in der Kopfsteuerbeschreibung des Amtes Hildesheim-Steuerwald 73 Hof- und Hausstellen genannt, wovon 12 Höfe mehr als eine Hufe (ca.30 Morgen) Land hatten, 31 mehr als 1 Morgen Land bewirtschafteten und 30 über keinen Landbesitz verfügten oder wüst lagen. In der Folgezeit stieg die Hofstellenzahl weiter an. 40 Jahre später, im Erbregister des Amtes Steuerwald von 1688, werden 9 spanndienstpflichtige Ackerleute erwähnt, 49 dienstpflichtige Kötner und 16 Höfe ohne Dienstpflicht, also 74 Höfe. 1769 nennt die Feld- und Wiesenbeschreibung 2 Vollspänner, 7 Halbspänner, 26 Vollkötner und 43 Halbkötner, mithin 78 Höfe. Diese Zahl blieb bis etwa 1800 erhalten, 1784 werden 76 Höfe gezählt, 1806 sind es 83.
 
Im Verkoppelungsrezeß werden Mitte des 19. Jahrhunderts dann folgende Höfe genannt:
ein Gutsbesitzer, zwei Vollspänner, vier Halbspänner und 2 Viertelspänner, 19 Vollkötner und 43 Halbkötner. Über fast zwei Jahrhunderte hinweg war damit die Zahl der großen Höfen, der Spänner, etwa gleich geblieben, bzw. war von neun auf vier sogar leicht gesunken. Die Masse der Hofstellen bildeten kleine, ja kleinste Betriebe. Wie groß die Unterschiede waren, zeigt sich anhand der Angaben im Verkoppelungsrezeß noch einmal deutlich: Die Vollspänner bewirtschafteten zwischen 136 und 157 Morgen Ackerland, die Halbspänner 90 bis 157 Morgen, die Viertelspänner 53 bis 59 Morgen, die Vollkötner 2 bis 38 Morgen und die Halbkötner schließlich 1 bis 6 Morgen. Zwischen den Voll- und Halbspänner gab es eine Übergangszone, ebenfalls zwischen den Voll- und den Halbkötnern.
 
Diese feine Ordnung der Höfe in Voll- und Halbspänner, Groß- und Kleinkötner und die anderen Gruppen, waren nicht das Ergebnis einer natürlichen Ordnung oder einer Selbstzuschreibung, sondern Ausdruck herrschaftlicher Fremdbestimmung. Die Landesherren und sonstigen Herren der frühen Neuzeit, die von den Erträgen der Landwirtschaft lebten, hatten in Nordwestdeutschland nicht nur die Einstufung der Bauern in sogenannte Hofklassen durchgesetzt, sondern auch das Anerbenrecht und damit das Verbot der Realteilung installiert. Beides ergänzte sich. Bis in das frühe 19. Jahrhundert basierte die gesamte gesellschaftliche Ordnung und die Infrastruktur auf bäuerlichen Dienstleistungen. Das galt für die großen Domänen oder Vorwerke, die ohne die bäuerlichen Zwangsdienste nicht hätten bewirtschaftet werden können, aber auch für alle öffentlichen Einrichtungen sowie das Militär. Bäuerliche Dienste waren überall unentbehrlich: Burgen und Schlösser wurden mit ihnen erbaut, Brücken errichtet, Wege instand gehalten, Truppen und deren Fourage befördert. Dazu wurden aber immer wieder Pferdegespanne samt Wagen benötigt. Kleinstellen mit wenigen Morgen Land konnten sie nicht stellen, sondern nur große Höfe. Deshalb wurde deren Bestand geschützt, indem die Realteilung bei Hofteilungen verboten wurden. Auf diese Weise entstanden nicht nur die zahlreichen, fein gestuften Hofklassen, sondern auch die großen Höfe. Deren Zahl blieb über Jahrhunderte hinweg konstant, der Bevölkerungszuwachs schlug sich allein in der Zunahme der Klein- und Kleinststellen nieder. Allerdings blieb er in Dörfern wie Ahrbergen im 18. Jahrhundert begrenzt; hier gab es nur in einem geringen Maße außeragrarisches Nebengewerbe wie die exportorientierte Leinenweberei, die in anderen Regionen zu einem starken Anwachsen der ländlichen Unterschichten beigetragen hatte.

Landwirtschaft war über lange Zeiten eine wichtige Grundlage für die Ökonomie des Dorfes. Das änderte sich aber um 1900. Die Einwohnerzahlen belegen diese Entwicklung: um 1800 lebten in Ahrbergen ca. 440 Menschen, 1871, im Jahr der Reichsgründung waren es knapp 100 mehr, 1905 mit 750 aber schon fast doppelt so viele und 1925 waren es sogar 894. Dieses vergleichsweise schnelle Wachstum in einem bäuerlichen Dorf verweist auf strukturelle Veränderungen, in diesem Fall die Anlage eines Kalischachts.

Konnte man bis dahin noch von einem "normalem", also einem bäuerlichen Dorf sprechen, so änderte sich dies mit dem Kalischacht, aus Ahrbergen wurde partiell ein Arbeiterwohnort 
Damit setzte um die Jahrhundertwende ein Prozess ein, der sich besonders in der Nachkriegszeit entscheidend beschleunigte. Bis etwa zum zweiten Weltkrieg konnte der Ort seine eher bäuerliche Struktur weitgehend bewahren. Dem entsprach ein eindeutige konfessionelle Präferenz, und zwar eine katholische. Dennoch veränderte sich der Ort auch schon vor 1945. Dazu trug bei, dass der Kalischacht hier zwar schon recht früh geschlossen worden war. 

Aber dafür Mitte der 1930er Jahre eine Munitionsanstalt, eine Muna, angelegt wurde. Der Ort bekam dadurch zunehmend ein doppeltes Gesicht. Hier das weiterhin bäuerliche Dorf, dort das Dorf der Zugezogenen, der Bürger, Arbeiter und Militärangehörigen. Schon der Kalischacht hatte eine Entwicklung in Gang gesetzt, die im Kaiserreich überall für Unruhe sorgte. Industrieanlagen auf dem Lande stellten eine enorme Herausforderung für die immer noch arbeitsintensive Landwirtschaft dar. Industrie bot die besseren Arbeitsplätze und -bedingungen. Zwar wurde versucht, eine Abwanderung aus der Landwirtschaft in den Bergbau zu verhindern. Doch dieser war nicht nur attraktiver (es gab Barlohn und zwei Tage Urlaub im Jahr), sondern es zogen von außerhalb neue Arbeiter hinzu, die zudem häufig Protestanten waren. Arbeiterschaft in Großbetrieben bedeutete zudem, dass diese sich schneller und besser organisieren konnten, und sei es in vermeintlich unpolitischen Sportvereinen. 

Das einzige Disziplinierungsmittel der Bauern bestand noch darin, dass viele einheimische Arbeiter kleine Landbesitzer waren, die bäuerliche Spannleistungen für die Bearbeitung ihrer Felder benötigten und deshalb zu Arbeitsdiensten gezwungen werden konnten.

Hier zeigt sich, dass die dörfliche Gesellschaft bis weit in das 20. Jahrhundert auf asymmetrische Sozialbeziehungen aufbaute. Die hohe und zudem saisonale Arbeitsintensität der Landwirtschaft konnte nur dadurch gesichert werden, dass entweder im Dorf freie Arbeitskräfte zur Verfügung standen oder von außen Saisonarbeitskräfte genutzt werden konnten. Faktisch ergänzten sich beide Rekrutierungsmöglichkeiten. Während für die Saisonarbeiter harte ökonomishe Faktoren - in ihren Herkunftsländern waren die Lebensbedingungen noch schlechter - ausreichten, dürften für die innerdörflichen Arbeitskräfte außerökonomische Zwänge hinzu gekommen sein. Einerseits gelang eine letztlich asymmetrische Arbeitsbeziehung dadurch, dass Kleinlandbesitzer zur Beackerung ihres Landes auf die Spann- und Fuhrdienste der Bauern zurück greifen mussten und diese dafür Tagelöhnerdienste einfordern konnten. Hinzu dürften aber auch soziokulturelle Faktoren getreten sein. Für die meisten Dorfbewohner dürfte es selbstverständlich gewesen sein, dass die "kleinen Leute" bei den Bauern arbeiteten. Zumindest so lange, wie sie sahen, dass es Alternativen gab. Entweder war es der Militärdienst, die die männlichen Dorfbewohner mit anderen Abhängigkeitsbeziehungen konfrontierten und sie vor allem aus dem Lebensraum Dorf heraus brachten oder es war die Industrie. Die Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum der königlichen Landwirtschaftsgesellschaft zu Celle von 1914 beklagt eindringlich die allgemeine "Leutenot" (184-185), die in den südlichen Landesteilen mit den guten Böden besonders ausgeprägt sei. Nur durch Saisonarbeiter aus den östlichen Provinzen des Reiches konnte dem noch begegnet werden. Wenn in dieser und anderen Schriften gern von der "Unbotmäßigkeit" des ländlichen Gesindes die Rede kommt, dann bedeutete dies sowohl die zunehmende Ablehnung patriarchalischer Verhältnisse, die den Landarbeitern keine angemessene Behandlung zu Teil werden ließ, als auch neue Lebensentwürfe speziell der Frauen, von denen es heißt, dass es sie in die Städte zog. Außerdem würden die Töchter der Handwerker und der "kleinen Besitzer" in der Nähe von Städten nicht mehr bereit sein, zu dienen, sondern "als Schneiderinnen, Jungfer oder als Verkäuferinnen ... ihr Brot suchen". Dort, wo Industrie in der Nähe waren, konnten die Landarbeiter aber auch allgemein die Bedingungen viel stärker diktieren. Der Autor klagte deshalb:

"Damals (gemeint ist die Zeit vor 50 Jahren) machte man mit Dienstboten, die sich auch nur etwas unbotmäßig betrugen, wenig Federlesens, man setzte sie einfach vor die Tür, und Ersatz war bald gefunden. Heute aber kündigt das Gesinde in der Regel zuerst oder läuft einfach weg, einen Dienst bekommt es bald wieder, (...) dazu kommt ferner, dass die Dienstboten in immer geringerem Umfange Anteilnahme am Wohl und Wehe der Herrschaft zeigen, und daraus folgt naturgemäß, daß diese sich auch immer weniger um das Wohl des Gesindes kümmert, so daß an Stelle des einstmals für beide Teile nur förderlichen "patriarchalischen" Verhältnisses immermehr ein reines Vertragsverhältnis tritt."

Die vermeintlich heile dörfliche Welt geriet schon am Vorabend des Ersten Weltkriegs durcheinander, konnte aber dennoch für die nächsten Jahrzehnte noch einigermaßen aufrecht erhalten werden. Mit der NS-Zeit und dann dem Krieg brach sie aber endgültig auseinander, was sich am Beispiel von Ahrbergen besonders eindrucksvoll schildern läßt.

Betrachten wir zunächst die Bevölkerungsentwicklung, zeigt sie uns doch wichtige Entwicklungen auf bzw. gibt Hinweise auf diese. 1939 lebten in Ahrbergen 1115 Menschen, 1950 waren es dagegen fast genau doppelt so viele: 2128! Doch die eigentliche Überraschung liefern die folgenden Jahre. Die Verdoppelung der Einwohnerzahl innerhalb von zehn Jahren war die Folge des Zuzugs Hunderter von Flüchtlingen und Vertriebenen. Das ist keine Überraschung. Aber während in vielen anderen Dörfern die zwangsweise eingewiesenen Neubürger bald eine neue Existenz ausserhalb der Dörfer aufbauten und wegzogen, traf dies auf Ahrbergen nur in einem sehr begrenzten Umfang zu. Auch hier gingen zunächst Einwohner weg, aber es waren bis 1956 lediglich 150 Menschen, danach gab vergrößerte sich die Einwohnerzahl wieder, 1961 waren es 1982 und 1964 schon 2097, also fast genau so viel wie 1950. Wie die Sache auch ausgehen konnte, zeigen die Werte eines anderen Dorfes, das wir ebenfalls in den 1990er Jahren untersuchten, dem kleinbäuerlichen Dorf Winzlar am Westufer des Steinhuder Meeres. Hier hatten 1939 591 Menschen gelebt, durch Flüchtlinge und Vertriebene war die Einwohnerzahl bis 1950 ebenfalls fast verdoppelt, nun waren es 1031. Doch schon 1960 lag die Zahl nur noch bei knapp 700, also nur 100 mehr als 1939.  Hier hatten die meisten das Dorf wieder verlassen. Die Gemarkungsfläche betrug übrigens in Ahrbergen 7,2, ha, in Winzlar dagegen 8,1, die Einwohnerdichte lag mithin in Ahrbergen doppelt so hoch. Woran lag das? Ein Blick auf die Landkarte zeigt den Unterschied: Winzlar liegt im Niederungsgebiet des Steinhuder Meeres, hier gibt es nur vergleichsweise wenige gute Ackerböden, dafür aber viel Grünland.

Warum war das in Ahrbergen nicht der Fall gewesen? Zur Beantwortung dieser Frage hilft der Vergleich mit dem zweiten Dorf erneut weiter. Die Gemeindestatistik für 1950 nennt für Ahrbergen insgesamt 1058 Erwerbspersonen, für Winzlar 517. Interessant ist nun die Verteilung auf die Erwerbszweige: In der Landwirtschaft waren in Ahrbergen noch 226 Menschen beschäftigt, also ziemlich genau 22 %, in Winzlar dagegen 333, also über 60 % oder dreimal so viel. Bei Industrie und Handwerk sah es, das läßt sich nach den landwirtschaftlichen Zahlen schon vermuten, genau anders aus: 449 oder über 40 % in Ahrbergen, 127 oder ca. 25 % in Winzlar. Beim Handel war der Anteil etwa gleich (absolute Zahlen 64 und 30), beim Öffentlichen Dienst waren die Abweichungen am größten: Ahrbergen 319 oder 30 %, in Winzlar 27 oder 4 %. Winzlar war also immer noch ein sehr bäuerliches Dorf, Ahrbergen hatte zwar einen agrarischen Kern behalten, war aber hinsichtlich der Berufstätigkeit durch Personen geprägt, die entweder in der Industrie und dem Handwerk arbeiteten oder im Öffentlichen Dienst.

Wir stehen hier vor einem Paradox: Winzlar mit seinen schlechten Voraussetzungen für Landwirtschaft ist 1950 noch durch eine große Zahl von Kleinstellen geprägt und verfügt über nur wenig Bevölkerung, die außerhalb der Landwirtschaft tätig ist, Ahrbergen mit seinen guten Böden dagegen über nur wenig Betriebe in der Landwirtschaft. Dies Muster finden wir relativ häufig in Niedersachsen. Nicht dort, wo die Böden gut sind, hält sich lange ein hoher Anteil an landwirtschaftlicher Bevölkerung genau umgekehrt dort, wo die naturräumlichen Bedingungen schlecht sind. Entscheidend dürfte aber gewesen sein, dass in Ahrbergen das außerlandwirtschaftliche Angebot weitaus größer war. Der Kalibergbau im Ort und später nach der Stillegung in den Nachbargemeinden war dafür ebenso verantwortlich wie die relativ nahe und über eine Straßenbahn gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbaren Städte Sarstedt und Hildesheim.
Zur Beantwortung der Frage, warum aber in der Studie von Reinecke über Barneberg das Bäuerliche des Dorfes eine derart große Rolle spielte, ist ein weiterer vergleichender Blick auf die beiden Dörfer notwendig. In Winzlar arbeiteten 1950 mehr Menschen in der Landwirtschaft als in dem doppelt so großen Ahrbergen. Ein Blick auf die Betriebsstatistik zeigt teilweise noch größere Unterschiede. 44 Betriebe gab es damals in Ahrbergen, 120 in Winzlar. Erstere bewirtschafteten 698 ha, letztere 891 ha, folglich betrug die durchschnittliche Betriebsgröße knapp 16 bzw. 7,5 ha. Allerdings verfügte Ahrbergen dank seiner guten Böden über 597 ha Ackerland, Winzlar dagegen nur über 330 ha, während das Dauergrünland 402 ha einnahm, in Ahrbergen waren es lediglich 43 ha. Die Betriebsgrößenstatistik beider Gemeinden zeigte - nicht mehr überraschend - weitere Abweichungen: unter 2 ha, also Haushalte mit größeren Gartenflächen, hatten in Ahrbergen 21, in Winzlar 11, zwischen 2 und 5 ha hatten in Ahrbergen zwei Betriebe, in Winzlar 56, bei den 5-10 ha großen Betrieben waren die Unterschiede ähnlich hoch: vier zu 28, bei den 10-20 ha großen Betrieben war das Verhältnis 10 zu 21; erst bei den 20-50 ha großen Betrieben war ein "Gleichstand" erreicht (drei zu drei), über 50 ha große Betriebe gab es nur in Ahrbergen und zwar gleich vier. Hoher Anteil der Landwirtschaft korrelierte also mit einer klein- bis mittelbäuerlichen Struktur, relativ geringer Anteil mit einer mittel- bis großbäuerlichen Struktur.

Weshalb aber wurde 1980 Ahrbergen als ein bäuerliches Dorf beschrieben, nicht etwa Winzlar? Zum einen müßte man sich die Dorfbilder beider Orte genauer ansehen. Zu vermuten ist, dass die großen Betriebe in Ahrbergen auch reiche Betriebe waren, die allein deshalb architektonisch dominierten und dem Dorf ein weiterhin "bäuerliches" Gepräge gaben, zumal die nach 1950 zahlreichen Neubauten am Dorfrand, außerhalb des Zentrums lagen.

Dieses dürfte als Erklärung aber noch nicht ausreichen. Etwas weiteres kommt hinzu, die Wahrnehmung des Dorfes selbst. Ahrbergen hatte beides, Bauern, sowie Arbeiter und Angestellte, es lag nahe an Zentren, die Wahrscheinlichkeit, dass es von der Wissenschaft wahrgenommen wurde, war deshalb doppelt groß. Einerseits bot sich ein solcher Ort für Studien allein deshalb an, weil er direkt vor den "Toren der Stadt" lag, andererseits war die Wahrscheinlichkeit groß, dass Studierende aus diesem Ort entsprechende Studien initiierten. Zudem spielten in der Leitung des Dorfes bürgerliche Konzepte eine wichtige Rolle, d.h. man suchte von sich aus bewußt den Kontakt mit Partnern außerhalb des Dorfes. In Ahrbergen ist dies erkennbar an einem frühen Flächennutzungsplan, den die Gemeinde bei der Gartenbauschule in Sarstedt in Auftrag gegeben hatte. Er war auch eine Reaktion auf die Herausforderungen, die die vielen Flüchtlinge und Vertriebene an die Planung des Dorfes stellten. Dazu kamen die Verhandlungen mit den Burbach-Kaliwerken um neue Siedlungshäuser. Es gab also so etwas wie einen Professionalisierungsdruck in der Gemeinde. Er schlug sich auch in einem hohen Maß an Schriftlichkeit nieder. Das überlieferte Gemeindearchiv dürfte zu den besten in der Region gehören. Allein die Protokolle der Gemeinderatssitzungen sind ausführliche Berichte, die nicht nur knapp Ergebnisse festhalten.

So heißt es etwa im Protokoll des Wohnungsausschusses vom 12.8.1948:

"besonders habe sich die Unterbringung von entlassenen Kriegsgefangenen in der letzten Zeit sehr schwierig gestaltet, da angeordnete Zwangseinweisungen gegen den Widerstand der Wohnungsinhaber teilweise nicht durchgesetzt werden konnten." 
"Andere geplante Umlegungen konnten infolge Weigerung einzelner Parteien meistens nicht durchgeführt werden."

Dem wird hinzugefügt, dass das Problem nur durch Neubauen gelöst werden könne. Die beschriebenen Konflikte dürften übrigens bei den meisten niedersächsischen Gemeinden mit einem hohen Anteil an Flüchtlingen aufgetreten sein, derart ausführliche Protokolle habe ich in anderen Gemeinden allerdings nicht gefunden.

Die Ahrberger Verhältnisse zeichnen sich demnach durch eine Vernetzung verschiedener Faktoren aus: große agrarische Betriebe, frühe Vergewerblichung des Ortes, Professionalisierungsansätze der Gemeinde nach 1945, hohes Maß an Schriftlichkeit. In Winzlar gab es übrigens nur ein bescheidenes Ortsarchiv und die Gemeinderatsprotokolle kamen nicht ansatzweise an die Ahrbergens heran. Der Ort bleibt wesentlich blasser in der Überlieferung.

Der zitierte Artikel von Carsten Reinecke findet sich in: Hauptmeyer, Carl-Hans u.a.: Annäherungen an das Dorf : Geschichte, Veränderung und Zukunft, Hannover 1983.

Der Titel der zitierten Schrift von 1914 lautet:
Festschrift zum 150jährigen Bestehen der Königlichen Landwirtschafts-Gesellschaft Hannover : 1764 - 1914, Hannover 1914.

Die Zitate entstammen einer nicht veröffentlichten Studie von mir. Teile davon finden sich hier: http://www.lwg.uni-hannover.de/w/images/9/91/Schneider_Geschichte_Ahrbergens.pdf. Benutzt wurden dafür vor allem Akten im Gemeindearchiv Ahrbergen (damals unverzeichnet).

Außerdem:
Steinborn, Holger: Modernisierung, Professionalisierung, Verstädterung. Dörfliche Kommunalpolitik von der Nachkriegszeit bis zur Gebietsreform, Magisterarbeit, Universität Hannover, Hannover 1995.

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