Dienstag, 15. Dezember 2015

Experimentierfeld Dorf

Eigentlich wollte ich hier einen kurzen Bericht über einen Workshop (der den Titel dieses Beitrags hatte!) schreiben, an dem ich letzte Woche in Halle teilgenommen habe, aber ich muss etwas ausholen, um meine Bewertung dieses Workshops verständlicher werden zu lassen.
Ich springe in die 1980er Jahre zurück, damals wurden das Dorf und die Auseinandersetzung damit interessant. Einerseits schuf die Dorferneuerung neue Tätigkeitsfelder für Architekten, Kulturwissenschaftler und ab und an auch Historiker, andererseits zogen immer mehr Städter aufs Land und entdeckten dieses. In Hannover taten sich damals einige Kollegen zusammen und führten nicht nur eine gemeinsame Vorlesung durch, sondern schrieben auch ein kleines Büchlein, „Annäherungen an das Dorf“ nannte es sich und verdeutlichte schon die komplexe Herausforderung, sich dem Phänomen „Dorf“ zu stellen. Daraus ergab sich ein kleines Forschungsprojekt, in dessen Verlauf ein „Profil“ durch Niedersachsen gelegt und Dörfer auf einer Linie zwischen Ostfriesland und dem Harz zunächst auf einer statistischen Basis untersucht wurden. Der Historiker der Gruppe, zu der ein Architekt und Dorfplaner, zwei Soziologen und ein Agrarwissenschaftler gehörten, gab mir damals den Platz frei, so dass ich an diesem Projekt beteiligt war. Es war übrigens finanziell knapp ausgestattet, für mehr als kleine Honorare, Fahrt- und Übernachtungskosten reichte das Geld nicht. Es war eine spannende Zeit, wir debattierten sehr viel und lange über das Phänomen Dorf, die Positionen zwischen Soziologen und Historikern auf der einen und den Planern auf der anderen Seiten lagen zuweilen weit auseinander. Soziologen und Historiker kritisierten vor allem den unkritischen Umgang mit dem Thema Dorf. Planer hatten damals einen stark verklärenden, visuellen Eindruck vom Dorf. „Dachlandschaften“ und Ortsmittelpunkte (wo intensives soziales Dorfleben generiert werden sollte), standen höher als eine Auseinandersetzung mit den vorhandenen sozialen, politischen und kulturellen Verhältnissen. Der „Wortführer“ dieser ästhetischen Annäherung an das Dorf war übrigens Wilhelm Landzettel, dem wir prächtige Bildbände zu verdanken haben, dessen Analysen aber für Gesellschaftswissenschaftler irritierend wirkten. Zurück zum Projekt:
Nachdem wir die statistische Aufarbeitung der Dörfer beendet hatten, gingen wir an die Untersuchung einer Gemeinde, allerdings einer Samtgemeinde, die erst durch die Gebiets- und Verwaltungsreform zusammen gewürfelt war. Wir suchten uns für die weitere Arbeit einzelne Dörfer dieser Samtgemeinde heraus. Die Soziologen beklagten, dass sie nicht genug Zeit für eine sorgfältige Lokalstudie hatten. Als „Ausweg“ führten sie Interviews mit Zugezogenen und kamen zu interessanten Ergebnissen, etwa dem, dass das „Dorf“ als Bezugspunkt für soziales Leben häufig überschätzt wird! Wir Historiker (damals war noch eine weitere Kollegin dabei) gingen in ein anderes Dorf, in dem die Dorferneuerung ein wichtiges Thema war und beschäftigten uns im Rahmen eines Volkshochschulkurses mit der Dorfgeschichte. Am ersten Abend waren ca. 30 Personen anwesend, und als wir sie fragten, weshalb sie gekommen seien, erhielten wir zur Antwort, dass Herr B., der Vorsitzende des örtlichen Heimatvereins, ihnen gesagt hätte, sie sollten kommen. Herr B. war Zugezogener, lebte in einem älteren Haus in der Mitte zwischen altem Dorf (und zwar dem Teil, wo die Meierhöfe standen) und einer kleinen Neubausiedlung. Sein Wort galt jedenfalls etwas.
Nebenbei nutzten wir den Kurs, um Kontakte für offene Interviews mit einigen der Teilnehmer zu erhalten. Die meisten Interviewpartner waren Frauen und sie eröffneten bemerkenswerte Blicke auf das Phänomen Dorf aus weiblicher Sicht. Mehr dazu in diesem Blog!
Die Ergebnisse dieser Studien wurden auch veröffentlicht, aber leider so unscheinbar und abgelegen, dass sie kaum Leser gefunden haben dürften. Schade.
Wir führten damals auch mit anderen Kollegen Debatten um das Thema Dorf und immer wieder mussten wir uns mit sehr schlichten, einfachen, idyllischen Bildern auseinandersetzen. Mein Beitrag zur Dorfgeschichte in Niedersachsen lautete übrigens „Das imaginäre Dorf“. Er richtete sich u.a. gegen die vereinfachten Vorstellungen vom Dorf, wobei hier simple historische Arbeit betrieben wurde. Als ich diesen kleinen Beitrag vor einem Jahr in die LernWerkstatt Geschichte eingestellt habe, stieß ich bei einer Recherche auf einen fast gleichnamigen Band über „Imaginäre Dorf“ von Werner Nell und Marc Weiland. Und dadurch kam der Kontakt zustande, der zu der Teilnahme an dem Workshop über das „Experimentierfeld Dorf“ letzte Woche in Halle führte. 
Nun gibt es derzeit wieder eine neue „Lust“ am Landleben und am Dorf. Was hat das für Folgen für Wissenschaftler, die nicht den - wie ich ein wenig dachte - kritischen Blick auf das Dorf haben, sondern eher gefangen sind in den einfachen Bildern des Dorfes? Nun, um es kurz zu machen, meine Bedenken wurden nicht nur zerstreut, sondern ich wurde vom Gegenteil überzeugt. Die in Halle geführten Beiträge und Debatten bewegten sich auf einem überzeugenden methodischem und theoretischen Niveau. Im Vergleich dazu war das, was wir Ende der 1980er Jahre gemacht haben, fast stümperhaft. Gleich, ob Dörfer aus der DDR, Polen oder Weißrussland behandelt wurden, ob es um die Auseinandersetzung mit literarischen oder architektonischen Perspektiven ging, es wurden komplexe Zusammenhänge heraus gearbeitet. Die Vielfalt der Perspektiven und Deutungen (etwa die Frage, ob das Uneigentliche des Dorfes nicht das Eigentliche sei …) war immer wieder faszinierend. Für den Westdeutschen wie mich war nicht so sehr die Erweiterung auf die DDR (ach, die Kinder von Golzow im Oderbruch …), sondern die nach Polen und Weißrussland spannender, etwa der Bezug zwischen dörflicher Sprache und der der „Hochkultur“. Manches knüpfte gleichsam an das an, was wir 25 Jahren zuvor allerdings mit viel einfacheren Mitteln unternommen hatten, wie die gezielte Befragung von Zugezogenen oder von Frauen. Dazu kam bei den Vortragenden keine Idyllisierung des Dorfes (wobei immer wieder betont wurde, dass es „das“ Dorf ja gar nicht gebe), sondern eine durchaus differenzierte Bewertung der jeweiligen Verhältnisse. Auch wenn es dezidiert, zumindest nach meinen Eindrücken, nie formuliert wurde, so war die Frage nach dem gesamtgesellschaftlichen Stellenwert des Dorfes, des ländlichen Raumes oder dessen, was dafür gehalten wird, ein durchgängiges Thema. Die Frage nach dem „guten Leben“ ist eben nicht nur eine Frage, die „das“ Dorf betrifft, sondern die von gesellschaftlicher Relevanz ist, weil sie sehr individuell beantwortet wird. An mehreren Stellen trat auch das alte Thema des zu kolonisierenden Dorfes auf, der Dorfbewohner, die für sich allein nicht entscheiden können, was „richtig“ für sie ist, die sich externen gesellschaftlichen Normen nicht stellen wollen, seien es die Dorfbewohner, die während der Kollektivierung in SBZ und DDR sich vor ihre „Feudalherrin“ stellen und von der SED-Elite zum „besseren“ Leben gezwungen werden müssen, seien es die alten Bewohner von Dörfern, denen die Zugezogenen erst meinen zu vermitteln müssen, was „richtiges“ Dorfleben ist.
Die Bilanz dieser Tagung ist ausschließlich positiv, sie war anregend und wegweisend. Ich bin gespannt, wie sich das Projekt weiter entwickelt.

Der Sammelband hieß:
Hauptmeyer, Carl-Hans, u.a.: Annäherungen an das Dorf : Geschichte, Veränderung und Zukunft, Hannover 1983.
Das kleine Büchlein zu unserem Projekt:
Das Profil: Untersuchung der Probleme und Entwicklungspotentiale ländlicher Gemeinden in Niedersachsen (Arbeitsmaterial/Akademie für Raumforschung und Landesplanung 169). Hannover 1990. Autoren des Bandes waren u.a. Heinar Henckel, Hans-Werner Wöbse, Carsten Reinecke.
Mein kurzer Text, den ich heute nicht mehr so schreiben würde, findet sich hier: http://www.lwg.uni-hannover.de/w/images/3/3c/Schneider_imaginäre_Dorf_2014.pdf 
Über das Projekt in Halle gibt es hier alle wichtigen Informationen samt dem erwähnten Buchtitel:

http://www.dorfatlas.uni-halle.de