Donnerstag, 7. November 2013

Hausen - Kiebingen und die Wikipedia

In dem im vorherigen Beitrag vorgestellten Bändchen "Annäherungen an das Dorf" gibt es auch einen Beitrag von Albert Ilien über das Dorf Hausen, in dem er in den 1970er Jahren nicht nur gelebt, sondern das er auch zum Thema seiner Dissertation gemacht und über das er zusammen mit Utz Jeggle ein Buch geschrieben hat (Ilien, Albert/Jeggle, Utz: Leben auf dem Dorf: zur Sozialgeschichte des Dorfes und zur Sozialpsychologie seiner Bewohner, Opladen, 1. Aufl. 1978). Über Hausen haben aber auch noch weitere publiziert, wie Wolfgang Kaschuba und Carola Kipp (Kaschuba, Wolfgang/Lipp, Carola: Dörfliches Überleben: zur Geschichte materieller und sozialer Reproduktion ländlicher Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Tübingen 1982).
Hausen ist eigentlich Kiebingen, ein inzwischen eingemeindetes Dorf in der Nähe der Universitätsstadt Tübingen (den Prozess der Eingemeindung beschreibt Ilien übrigens sehr ausführlich).
Was liegt also näher, als einmal in der Wikipedia nachzusehen, was es dort über Kiebingen zu lesen gibt. Nun, eine ganz Menge: etwa dass Kiebingen ein Stadtteil von Rottenburg am Neckar ist, eine Geographie hat und auch eine Ausdehnung sowie Nachbarorte. Alles Standardeinträge wie auch der Hinweis auf eine eigene Bevölkerung.
Und es hat eine Geschichte, die mit einer ersten urkundlichen Erwähnung im Jahre 1204 beginnt bzw. noch weiter zurück reicht, gibt es Reihengräber aus dem 5. Jahrhundert. Zudem wurde dort 1342 ein Paulinerkloster gegründet, das erst 1748 aufgelöst und im 19. Jahrhundert abgebrochen wurde. Schließlich wurde es in den 1970 von Arbeitsgruppe "um Uzt Jeggle" systematisch untersucht, so dass Kiebingen "zu den am besten erforschten Dörfern Deutschlands, siehe Literatur" gehört.
Politik gibt es auch, beschränkt sich aber auf eine Partnerschaft mit einer französischen Stadt. Wirtschaft und Infrastruktur sind nach Rottenburg ausgelagert worden, immerhin gibt es seit 1903 ein eigenes Kraftwerk, das nicht nur in diesem, sondern noch in weiteren Artikeln (mit denselben Bildern) ausführlich vorgestellt wird.
Immerhin ist dann Kiebingen noch über die Neckarbahn an die große weite Welt angeschlossen und es verfügt über Bildung, nämlich in Form einer Grund- und Hauptschule.
So kurz alle diese Informationen gehalten sind, es gibt es eine lange Literaturliste inkl. der schon erwähnten Tübinger Schriften sowie eine Ortsgeschichte aus dem Jahre 2004. Bei den Einzelnachweisen wird noch einmal das Kraftwerk verlinkt.

Was lernen wir daraus? Kiebingen ist nach Ausweis dieses Artikels eines der am "besten erforschten" Dörfer Deutschlands. Nur, was da erforscht wurde, darüber erfährt der Leser gar nichts, überhaupt nichts. Er wird mit knappen Banalitäten abgespeist. Liest man sich den beißenden Kommentar von Albert Ilien in dem erwähnten Sammelband über "tote Winkel" (S. 105), so passt allerdings wieder einiges. Dass, was kritische Sozialforschung da vor 40 Jahren über das Dorf heraus gefunden hat, darf auf keinen Fall in einem öffentlich zugänglichen Artikel in der Wikipedia stehen. Der Eintrag zeigt ein gesäubertes, nicht einmal glattes, sondern fast unkenntliches Bild des Dorfes.
Das Zitat Iliens lautet übrigens:
"Das Problem solcher toter Winkel ist ja nicht einfach, dass sie existieren, sondern, dass man tut,  als ob sie nicht existieren. Sie zu benennen kann dann von denen als Kränkung ihres Selbst- (und/oder Realitäts-) Bewusstseins empfunden werden." (Annäherungen an das Dorf, S. 105)

Mittwoch, 6. November 2013

Annäherungen an das Dorf - revisited 1

# Annäherungen an das Dorf - revisited 1

Vor dreißig Jahren wurde ein kleiner, aus einer Ringvorlesung hervor gegangener Sammelband veröffentlicht, der sich "Annäherungen an das Dorf" nannte. Autoren des Bandes waren Carl-Hans Hauptmeyer, Heinar Henckel, Albert Ilien, Karsten Reinecke und Hans Hermann Wöbse. Der Band erschien beim Fackelträger Verlag in Hannover.
Morgen werden wir einige der Beiträge dieses Bandes in unserem Seminar diskutieren und bei meiner vorbereitenden Lektüre sind mir noch einmal einige Aspekte aufgefallen.
Zuvörderst: Die Autoren waren keine "echten" Dorfbewohner, sondern entweder Städter (wie Carl-Hans Hauptmeyer) oder Zugezogene wie die übrigen (wobei ich nicht ganz genau weiß, ob damals schon alle auf dem Dorf wohnten; Albert Ilien jedenfalls berichtet über seine Erfahrungen als Bewohner von "Hausen" bei Tübingen, lebte aber später in Hannover). Menschen, die man in engerem Sinn als Dorfbewohner bezeichnen könnte, waren nicht dabei. Es waren im besten Falle Zugezogene, mit begrenztem Blick auf das Dorf. Das ist insofern wichtig, weil - auch wenn es um Wissenschaftler waren - doch um Projektionen einer besonderen Art handelte.
Die Autoren formulieren in ihren Texten durchaus unterschiedliche Perspektiven auf dörfliche Verhältnisse. Allen Texten ist aber eine Überzeugung gemeinsam, nämlich die, dass die ländlichen Verhältnisse sich in einem fundamentalen, alle bisherigen Entwicklungen übertreffenden Bruch befanden, wobei das Neue als bedrohlich, zumindest herausfordernd bewertet wurde. Handelte es sich dabei vielleicht um Projektionen, Projektionen, die - wie schon die Heimatbewegung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert - Dorfbilder konstruierten, die mit der Selbstwahrnehmung vieler Dorfbewohner nichts zu tun hatten. Wir haben so etwas auch dieses Jahr in Hösseringen feststellen können: Die "dörfliche" Gestaltung eines alten Hauses konnten wir bei den bürgerlichen Zugezogenen finden, die sehr nüchterne, mit historischen Versatzstücken lediglich ausstaffierte Wohnung dagegen bei den Alteingesessenen.
Das mag zwar Zufall sein, aber es kommt etwas Weiteres hinzu. Die Darstellungen in "Annäherungen an das Dorf" beschreiben das Dorf immer als ein durch landwirtschaftliche Aktivitäten und durch Gemeinschaftsverhalten charakterisierten Ort. Aber genau hierin liegt m.E. das zentrale Missverständnis. Landwirtschaft war eine wichtige ökonomische Basis der vormodernen Gesellschaft, aber nur eine unter mehreren. Andere ökonomische Aktivitäten werden praktisch nicht erwähnt. Das ist insofern erstaunlich, weil schon in den späten 1970er Jahren das Konzept der Protoindustrialisierung ältere Forschungen zu gewerblichen Aktivitäten des flachen Landes systematisch aufgegriffen und in ein neues theoretisches Konzept integriert hatten. Gerade diese Forschungen hatten gezeigt, dass Dörfer keineswegs ausschließlich eine landwirtschaftliche Basis hatten, sondern diese weitaus vielfältiger war.
Akzeptiert man aber diese hier nur angedeutete Beobachtung, dann wird der immer wieder postulierte starke Bruch in der Geschichte nach 1945 weitaus weniger tiefgreifend und kann umgekehrt nicht als eine Geschichte des Verlustes, sondern des Gewinns persönlicher und ökonomischer Freiheit gesehen werden. So sahen das übrigens auch manche ältere VHS-Teilnehmer, die ich in den 1980er Jahren in Lindhorst hatte: Sie hatten Dorf bis zum Zweiten Weltkrieg in erster Linie als eine Zwangsgemeinschaft erlebt, in der nicht nur die Bauern das "Sagen" hatten, sondern auch über den Alltag und die Lebensentwürfe der Dorfbewohner entschieden.
Der mit dem agrarischen Strukturwandel verbundene Kontrollverlust über das Dorf wurde demgegenüber als eine entscheidender Fortschritt angesehen, nicht als eine Verlustgeschichte. Die in den "Annäherungen an das Dorf" vertretenen Konzeptionen waren dagegen immer noch auf den Dualismus "altes" - "modernes" Dorf festgelegt.
Lassen wir dabei einmal all die Spekulationen über dörfliche Ästhetik beiseite und blicken noch auf einen anderen, teilweise offen, meist aber verdeckt vorgetragenen Aspekt, den der eigenständigen Entwicklung. Heinar Henckel schreibt dazu: "Anzustreben ist ein ländlicher Raum, der aus sich selbst heraus bestehen kann." (S. 20). Aber leider gab es auch in der Vergangenheit der letzten Jahrhunderte gerade diesen ländlichen Raum nie, er war immer vernetzt mit anderen Räumen. Die deutschen Aussiedler des 19. Jahrhunderts erhofften sich diese sich selbst genügende Landwirtschaft vielleicht in den weiten Plains des mittleren Westens und mussten auch dort feststellen, dass dies eine Fiktion war. Ohne den Bahnanschluss an die großen Zentren nutzte ihnen ihre eigene Produktion eben nichts.
Es war gerade diese Abhängigkeit, die dem historischen Dorf zumindest des 18. und 19. Jahrhunderts seine bis dahin größten Krisen bescherte. Der seit Mitte des 18. Jahrhunderts drastisch steigende Bevölkerungszuwachs basierte vorrangig auf den außerlandwirtschaftlichen Erwerbsmöglichkeiten. Als diese dann Anfang des 19. Jahrhunderts sich nach und nach auflösten, gerieten die Dörfer in eine tiefe Krise, die in eine drastische Abwanderung mündete. Dörfer waren eben nicht per se Orte, "die in extremen Krisensituationen die Chance [boten], Überlebenssituationen zu schaffen und zu sichern", wie dies Heinar Henckel im selben Band schrieb (S. 198), sondern sie boten im Vormärz eben keine Überlebenschance mehr! Und nach dem Zweiten Weltkrieg verloren sie ebenfalls sehr schnell an Attraktivität für viele Zugezogene, obwohl angesichts des Mangels an Nahrungsmitteln das Gegenteil zu erwarten wäre. Gut, hier wurde, wie schon im Ersten Weltkrieg, gehamstert. Aber das bedeutete keineswegs, dass die Hamsterer gern auf die Dörfer ziehen wollten - dazu war den Zeitgenossen der dörfliche Zwang zu bewußt! Selbst die Flüchtlinge und Vertriebenen zogen es meist vor, die Dörfer zu verlassen. Das ist eigentlich das Faszinierende: Dörfer wurden in dieser Zeit gerade nicht als Zufluchtsort angesehen, sondern im Gegenteil als Fluchtort.